Neun von zehn unschuldig überfahren

Die Unfallforschung der Versicherer (UDV) hat eine umfangreiche wissenschaftliche Untersuchung zu innerörtlichen Unfällen zwischen abbiegenden Kfz und Radfahrern vorgelegt.

Untersucht wurden rund 900 Unfälle in den Städten Münster, Darmstadt, Erfurt und  Magdeburg aus den Jahren 2007-2009. An 43 Knotenpunkten erfolgten ergänzende Verhaltensbeobachtungen.

Zu über 90 % sind die Kfz-Fahrer Hauptverursacher der Unfälle.

Bei Unfällen zwischen abbiegenden Kraftfahrzeugen (Pkw und Lkw) und geradeaus fahrenden Radfahrern waren zu über 90 % die Kfz-Fahrer Hauptverursacher der Unfälle. Fehler beim Ab- oder Einbiegen des Kfz-Fahrers sind zugleich die häufigste Unfallursache zwischen Kfz und Radfahrern. Das Risiko eines Personenschadens ist bei diesen Unfällen sechsmal höher als im gesamten Unfallgeschehen. Zwei Drittel der Unfälle geschehen beim Rechtsabbiegen, ein Drittel beim Linksabbiegen. Unfälle zwischen Radfahrern und abbiegenden Kfz bilden rund 20% aller Unfälle mit Personenschaden und Radfahrerbeteiligung. Diese Unfälle wurden zu über 90% vom Kfz verursacht.

Innerorts ist jeder vierte Getötete ein Radfahrer. Mehr als die Hälfte der im Straßenverkehr getöteten Fußgänger und Radfahrer sind über 65 Jahre alt.

Mitverantworlich an Abbiegeunfällen sind Radfahrer am häufigsten durch

  • regelwidriges Linksfahren
  • Nutzung des Gehwegs oder
  • allgemeine Missachtung der Verkehrsregeln.

Die Unfallberichte der Polizei geben innerorts mit weitem Abstand – knapp dreimal so häufig wie jeden anderen Tatbestand – „falsche Fahrbahn oder andere Straßenteile” als Unfallursache an, gefolgt von „Alkoholeinfluss”.

Die Frage, inwieweit dieses Fehlverhalten der Radfahrer durch ungenügende Radverkehrsinfrastruktur bedingt wurde, war nicht Gegenstand der Untersuchung.

85 % der befragten Radfahrer und der Kfz-Fahrer wussten nicht, dass Radfahrer Radverkehrsanlagen nur benutzen müssen, wenn diese als benutzungspflichtig ausgeschildert sind!

Daraus kann es nur eine Schlussfolgerung geben:

Entweder Radweg 1. Klasse oder kein Radweg.

Die beliebte Praxis, die Benutzungspflicht mangelhafter Radwege aufzuheben und den Radweg als Radweg 2. oder 3. Klasse beizubehalten, ist verkehrsgefährdend. Dieser Grundsatz gilt als wichtiges Prinzip der ERA 2010. Für Radwege ohne Benutzungspflicht gelten uneingeschränkt dieselben Anforderungen wie für jeden anderen Radweg. Bei Nichteinhaltung müssen diese Radwege aufgehoben werden.

Die Unfallforschung der Versicherer zieht aus ihrer Studie vor allem folgendes Fazit:

  • Radverkehrsanlagen müssen regelkonform gestaltet, erkennbar und verständlich sein.
  • Die Infrastruktur an Knotenpunkten ist so zu gestalten, dass der Sichtkontakt zwischen Autofahrern und Radfahrern gewährleistet ist.
  • Autofahrer können nicht erkennen, wann Radverkehrsanlagen benutzungspflichtig sind oder ob linksfahrende Radfahrer illegal oder legal unterwegs sind.

Links fahrende Radfahrer sind innerorts besonders gefährdet.

Links fahrende Radfahrer, gleichgültig ob legal oder illegal, sind innerorts immer besonders gefährdet. Nicht umsonst schreiben die Verwaltungsvorschriften zur StVO vor:

„Die Benutzung von in Fahrtrichtung links angelegten Radwegen in Gegenrichtung ist insbesondere innerhalb geschlossener Ortschaften mit besonderen Gefahren verbunden und soll deshalb grundsätzlich nicht angeordnet werden.”

Dieser Grundsatz wird von vielen Städten und Gemeinden vorsätzlich missachtet.

Bei der Gestaltung der Kreuzungsbereiche haben sich im Rahmen der Untersuchung abgesetzte Radfahrerfurten als besonders gefährlich herausgestellt:

Auffällige Knotenpunkte bei Rechtsabbiegeunfällen waren Knotenpunken mit Lichtsignalanlage und einer Furtabsetzung zwischen 2 und 4 m sowie Knotenpunkte ohne Lichtsignalanlage und Furtabsetzung über 4 m.

Linksabbiegeunfälle waren besonders auffällig bei Knotenpunkten ohne Lichtsignalanlage und Radverkehrsführung im Mischverkehr. Die Unfalldichte und Unfallkostendichte ist dabei aber insgesamt sehr niedrig.

Es kommt auf die Details an.

„Situative Merkmale zeigten bei der Konfliktbetrachtung einen bedeutsamen Einfluss auf die Kritikalität der Abbiegesituationen und konnten die Konfliktrate um das sechs- oder neunfache vervielfachen.”

Entscheidend ist die frühe und ungehinderte Sichtbeziehung zwischen Kfz-Fahrer und Radfahrer. Der Radfahrer muss sich in der Sichtlinie des abbiegenden Kfz-Fahrers befinden. Gefährlich wird es zudem, wenn mehrere Kfz hintereinander abbiegen und ein geradeaus fahrender Radfahrer dazwischen kommt.

Beim Verkehrsklima stach Münster hervor:

„Hier scheint ein besonderes Verkehrsklima zu herrschen, in dem Kfz-Fahrer besondere Rücksichtnahme und höhere Regeltreue walten lassen.”

Diue Unfallursache Radweg wird uns wohl noch lange erhalten bleiben.

Der Forschungsbericht in Kurz- und Langfassung sowie eine Pdf-Präsentation stehen hier zur Verfügung:

 

 

Über Klaus Kuliga

Seit 33 Jahren Arbeit an demselben Projekt: Aus Bochum eine fahrradfreundliche Stadt machen. Eine fahrradfreundliche Stadt ist eine Einladung zum Rad fahren. Immer, überall, für jeden.
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6 Antworten zu Neun von zehn unschuldig überfahren

  1. Dirk sagt:

    Lustige Headline. Der 10. wurde dann “schuldig überfahren”?

  2. Klaus Kuliga sagt:

    Die Unfallforschung der Versicherer sagt in der Präsentation zu dem Forschungsbericht:
    “Fast 2/3 aller Unfälle, bei denen Radfahrer getötet wurden, sind auch von diesen selbst verursacht worden.”

  3. Pedelecer sagt:

    Münster braucht nicht extra erwähnt werden. Von dieser Stadt können andere Städte nur lernen. Ich bin auch schon in Münster mit dem Rad gefahren. Gegenüber Köln ist das ein Unterschied wie Tag und Nacht. Mich stört viel mehr, das man auf Verbesserungen, egal ob am Radweg selbst, an den Bedarfsampeln oder der Beschilderung, ewig lange warten muss.

  4. Alfons Krückmann sagt:

    Von Münster lernen?

    Genau diese Stadt hat regelmässig die rote Laterne was die Unfallstatistik in NRW angeht.
    Es gibt überall benutzungspflichtige Radwege – natürlich mit den entsprechenden Unfallfolgen.
    Statt an die Ursachen zu gehen werden Gratis-Warnwesten verteilt.
    Der örtliche grüne Polizeichef fordert Kennzeichenpflicht für Fahrräder, die Verwaltung verweigert hartnäckig die Aufhebung von gefährlichen Benutzungspflichten.
    Selbst RVA-Neubauten werden als benutzungspflichtige gemeinsame ZWEIRICHTUNGSWEGE ausgelegt.
    Um in Münster sicher mit dem Rad unterwegs zu sein braucht es leider immer noch ein recht emanzipiertes Verhältnis zum geltenden Regelwerk.
    Für die Münsteraner Verkehrszuständigen sind Radfahrende Fussgänger auf Rädern geblieben (der für Verkehr zuständige Polizeidirektor hält 8-10 kmh für reguläres Radfahrtempo – neuerdings wurde gar das Rad-Rasen als wichtige Unfallursache von ihm identifiziert).

    Beispielhaft:
    http://www.sicher-durch-muenster.de/

    Hier kriegt man einen guten Überblick über die in Münster gängige verdeckte Schuldzuschreibung an die Opfer. Obwohl KFZ hauptursächlich für Unfälle sind (Verkehrsplaner mal ausser Acht gelassen) ist die Zielrichtung zu fast 3/4 an die Radfahrenden gerichtet.

    Was sich von Münster gut lernen lässt ist allenfalls Marketing und Öffentlichkeitsarbeit. Knallharte Autopolitik wird perfekt als radverkehrsfreundlich kaschiert bzw. “vermarktet”.
    Strassenbau, Parkhausbauten, fahrradfreie Fahrbahnen und Zersiedelungspolitik setzen den Rahmen mit dem ein permanent steigender MIV induziert wird. Die beständig steigenden Autoverkehre müssen dann auch noch für die Aufrechterhaltung der allgegenwärtigen Benutzungspflichten herhalten.
    Das mit den rücksichtsvollen Autofahrern stimmt zwar (im Kernbereich der Stadt), aber selbst das kann die horrend hohen Unfallzahlen nicht eindämmen.

    Nein!
    von Münster zu lernen ist definitiv KEINE gute Idee!

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