Wahnwesten

Strahlend blauer Himmel. Gleißende Helligkeit. Geschätzte 40 Kilometer Sichtweite, sogar hier im Ruhrgebiet. Auf dem Weg nach Hause leuchtet es vor mir auf dem Radweg neongelb. Müllentsorgung? Straßenbau? Polizei? Nein, eine Radlerin ist es, die mit 10 oder 12 km/h auf dem breiten Radweg unterwegs ist. Eine neongelbe Warnweste mit breiten Reflex-Streifen leuchtet über dem schweißnassen T-Shirt.

Strahlend blauer Himmel. Sichtweite gefühlt 200 km bis an den Atlantik. Auf dem Loire-Radweg kommt uns eine Gruppe neongelber Figuren entgegen. Eine ganze Familie in Warnwesten, fernab jedes Autoverkehrs. Alle paar Kilometer kreuzt man hier eine kleine Landstraße.

Ich gebe zu: Ich habe auch Warnwesten. Drei sogar. Zwei davon im Auto, wo sie sein müssen. Und eine bei den Fahrrad-Sachen. Das ist eher ein Warn-Latz. Den ziehe ich über, wenn ich mit dem Rennrad im Dunkeln unterwegs bin. Obwohl daran ein fetter LED-Scheinwerfer leuchtet, vom Nabendynamo gespeist. Weil ich da auch mal mit 40 km/h unterwegs bin, bei Rückenwind, und Autofahrer morgens um 5 Uhr nicht unbedingt mit Rennradlern rechnen.

Aber was treibt Lise Normalradlerin im helllichten Tag in die Warnweste? Warum hält es der ADAC für eine gute Sache, an Grundschulen Warnwesten zu verschenken, damit die Grundschüler auf dem Fußweg sicher zur Schule laufen können? Und warum tragen Kinder in England auf dem eingezäunten Spielplatz Warnwesten? Weil unsere Gefahrenwahrnehmung durch die Medien verdorben ist. Je öfter etwas in der Presse steht, desto gefährlicher scheint es zu sein. Unser Sohn ist im letzten Jahr mit der Schule nach England gefahren. Beim Info-Abend für die Eltern hat ein Elternteil gefordert, dass der Reisebus des lokalen Bus-Unternehmens von der Polizei am Morgen der Abfahrt auf Mängel kontrolliert wird. An dem Einwurf „Eine Fahrt im elterlichen Auto zur Schule ist statistisch belegt gefährlicher als die ganze Busfahrt.“ und dem Vorschlag, doch bitte auch den Germanischen Lloyd nach Calais zur Kontrolle der Fähre zu bestellen, hatten die Lehrer reichlich Spaß.

Wir leben in einer Welt von Scheingefahren. Zwei große Bier gehen locker nach dem Besuch im Fitness-Center, aber die 400 Meter durch das Wohngebiet zur Grundschule wird das Töchterchen im SUV gefahren. Kaum ein Autofahrer hält sich an den Mindestabstand beim Überholen von Radlern, aber fast jeder Autofahrer findet die Helmpflicht für Radfahrer sinnvoll. Der Gesetzgeber weiß, dass ein sicherer Weg, die Zahl der Unfalltoten in der Stadt zu senken, ein generelles Tempo 30 im Stadtgebiet wäre. Weil das aber Wählerstimmen kostet und die Auto-Industrie mit sofortigem Weltuntergang droht, drückt sich jede Regierung und nimmt willentlich Verkehrstote in Kauf.

Vielleicht sollten Politiker Warnwesten tragen, um vor sich selbst zu warnen.

Über Christian Strupp

Urlaubs-Radler seit 1989. Ganzjahres-Alltagsradler seit 2010. Langstrecken-Rennradler seit 2011.
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4 Antworten zu Wahnwesten

  1. Norbert Paul sagt:

    Die Warnwesten auf den englischen Spielplätzen warnen vor durchgedrehten Eltern in der Nähe :-D

  2. PresseRad sagt:

    Irgendwann wird man das Schwarze Loch in all den leuchtenden Sternen besser erkennen als einen weiteren leuchtenden Stern…

    • Norbert Paul sagt:

      Leuchten tut hier gar nichts, es wird nur einfallendes Licht reflektiert, so dass die Dinger in ganz vielen Situation gar nichts anders machen, als wenn man gar nichts trägt. :-)

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