Was ist eine Unfallschwerpunkt im Land NRW?

Der Laie würde sagen, es handelt sich um Straßen wo es häufig kracht.

Die Frage ist aber nun: “Was ist häufig und ist jeder Unfall gleich relevant.”

Hierfür gibt es im Land NRW gesetzliche Regelungen in Form des aktuellen Runderlasses  “Aufgaben der Unfallkommission in Nordrhein-Westfalen” vom Juni 2017. Der Erlass regelt auf Grundlage der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 44 der Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) die Arbeit der Unfallkommission als eine gemeinsame Aufgabe von Straßenverkehrs-, Straßenbau- und Polizeibehörden im Land. In der Anlage 3 des Erlasses werden in der Tabelle 1 die Richtwerte zur Identifikation von Unfallhäufungsstellen und -linien beschrieben. Hier mal eine vereinfachte Darstellung:

 

Richtwerte für Unfallschwerpunkt in NRW

 

Demnach wird ab fünf Unfällen auf einem bis zu 200 m langen Straßenabschnitt in einem Zeitraum von bis zu drei Jahren von einem Unfallschwerpunkt gesprochen, wenn es sich um Unfälle gleichen Typs mit Getöteten bis leichtverletzten Radfahrern handelt. Eine Definition der Unfalltypen gibt es beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (Stand: Januar 2016). Folgende Unfalltypen werden demnach unterschieden:

  • Fahrunfall (F)
  • Abbiege-Unfall (AF)
  • Einbiegen-Kreuzen-Unfall (EK)
  • Überschreiten-Unfall (ÜS)
  • Unfall durch ruhenden Verkehr (RV)
  • Unfall im Längsverkehr (LV)
  • sonstiger Unfall (SO)

Das heißt im Umkehrschluss, viele Unfälle werden hierbei nicht betrachtet:

  • Unfälle mit unterschiedlichen Ursachen (ungleichartiger Unfalltyp)
  • Unfälle, welche sich über einen längeren Straßenabschnitt erstrecken als 200 m innerorts
  • Unfälle, welche nur mit Sachschäden und “harmlosen” blauen Flecken oder Schürfwunden enden

Bei einem Zeitraum von einem Jahr werden auch Unfälle mit Sachschäden betrachtet, wenn das Abschleppen eines Fahrzeuges erforderlich ist. Wäre mal interessant, ob die Polizei hierbei auch Fahrräder erfasst, welche nur noch vom Unfallort geschoben werden können. Ich vermute mal, dass hierbei nur Autos auf einem Abschleppwagen betrachtet werden.

Jetzt mal ein Praxisbeispiel. Die Stadt XY markiert einen Schutzstreifen von 1,25 m Breite ohne Sicherheitstrennstreifen zu parkenden Autos und einer 4,50 m breiten Kernfahrbahn auf einem 500 m langen Straßenabschnitt. In den folgenden drei Jahren kommt es zu zahlreichen Fahrradunfällen.

  • 6x Dooringunfälle mit einem schwer- und einem leichtverletztem Radfahrer im Jahr 1, 2x schwerverletzte im Jahr 2 und zwei leichtverletzten im Jahr 3
  • 1x zu dichtes Überholen eines Autos mit anschließendem Sturz des Radfahrers, Verstorben im Jahr 3
  • 6x Unfälle beim Einbiegen von einem Supermarktparkplatz mit leichtverletzten Radfahrern im Jahr 1, 2 und 3
  • 2x Fahrradunfall durch Eigenverschulden in einem Verschwenkungsbereich des Schutzstreifen mit engen Kurvenradien nur blaue Flecken und Sachschaden an Fahrrad und parkendem Auto, kein Abschleppen in den Jahren 1 und 3

Wenn sich die Straßenverkehrsbehörde nun an die Richtwerte aus dem Runderlass hält, wird diese Unfallserie nicht als Unfallhäufungsstelle erkannt, da des sich um vier verschiedene Unfalltypen handelt (RV, LV, EK, F), die Unfälle über den gesamten 500 m langen Straßenabschnitt gestreut passieren und die Unfälle über einen Zeitraum von drei Jahre geschehen. Aus Sicht des Laien und der Betroffenen Radfahrer ist es aber ein sehr gefährlicher Straßenabschnitt mit Unfallhäufungen!

Eigentlich ist es aber auch klar, dass die Unfälle durch mangelhafte Infrastruktur entstehen und der einzelne Radfahrer – vor allem der Ungeübte (z. B. der Neueinsteiger, Kinder und ältere Menschen) – sich hier nur bedingt vor schützen kann. Es sind Mindestmaße auf der Fahrbahn kombiniert worden (4,5 + 1,25 m), es fehlt ein Sicherheitstrennstreifen von > 0,50 m zu parkenden Autos, die Sichtbeziehungen an der Einfahrt eines Supermarktes sind nicht ausreichend und die engen Kurvenradien des Schutzstreifens an einer Mittelinsel führen zu Unfällen durch Eigenverschulden. Die Planung entspricht demnach nicht den “Empfehlungen für Radverkehrsanlagen” (ERA 2010) der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV).

Man fragt sich nun, wie kommt es zu so hohen Richtwerten für Unfallhäufungstellen, wieso werden nur Unfälle gleichen Typs betrachtet und sind in der Vergangenheit die tendenziell sinkenden Unfallzahlen in Deutschland bei den Richtwerten berücksichtigt worden. Die Antwort ist leider ernüchternd:

  • vor dem aktuellen Erlass aus dem Jahr 2017 gab es einen Erlass aus dem Jahr 2008,  auch bei diesem Erlass gab es die selben Richtwerte in der Anlage 3
  • der Erlass von 2008 hatte einen Vorläufer im Jahr 2003, welcher ebenfalls die selben Richtwerte in der Anlage 3 aufführt
  • der Erlass aus dem Jahr 1999 hatte erstaunlicherweise in der Anlage 5 differenziertere und niedrigere Richtwerte enthalten

Im Erlass aus dem Jahr 1999 gab es unterschiedliche Zahlen für Unfälle gleichen Typs (nur zwei Unfälle) und Unfälle ungleichen Typs (drei Unfälle) für einem Zeitraum von einem Jahr (innerorts, Strecke, 200m). Hätte man das oben genannte Beispiel nach dem Erlass aus 1999 bewertet, dann wäre es eindeutig eine Unfallhäufungsstelle. Dies erscheint im Hinblick auf die tendenziell sinkenden Unfallzahlen in Deutschland völlig unerklärlich:

 

ToteVerletztegetötete Radfahrer (innerorts)verletzte Radfahrer (innerorts)
19997.772521.127 36467.340
20163.206396.666 25173.474

 

Quelle: Destatis, Tote und Verletzte, getötete und verletzte Radfahrer

Vor diesem Hintergrund ist es fatal, dass viele Tätigkeiten im Rahmen der Verkehrssicherheitsarbeit der Polizei und der Straßenverkehrsbehörden auf die gemäß Erlass definierten Unfallschwerpunkte ausgerichtet sind. Zum Beispiel sollen Geschwindigkeitskontrollen gemäß dem Runderlass “Verkehrssicherheitsarbeit der Polizei NRW” aus dem Jahr 2009 nur an folgenden Stellen erfolgen:

“Die Geschwindigkeitsüberwachung soll vorrangig an Unfallhäufungsstellen und auf Unfallhäufungsstrecken sowie in schutzwürdigen Zonen (z. B. an Kindertagesstätten, Schulen, Seniorenheimen) erfolgen. Einsatzorte und -zeiten sind zwischen Polizei und Ordnungsbehörden abzustimmen.”

Bei vielen Fahrradunfälle und selbst bei tödlichen Unfällen heißt es dann von Seiten der Behörden “dies ist ein Einzelfall – an dieser Stelle liegt kein Unfallschwerpunkt vor”. Es scheint dann zur Beruhigung der Bevölkerung ausreichend zu sein und ein Handeln der Behörden zur Verbesserung der Verkehrssicherheit erfolgt nicht.

Wie ist sind eure Erfahrungen bei der Mitarbeit des ADFC in Unfallkommissionen? Wird mit den Richtwerten (es sind ja nur Richtwerte und keine Grenzwerte) gearbeitet und man freut sich über möglichst wenig Arbeit oder gibt es in einzelnen Kommunen strengere Auslegungen?

Die Vision Zero kann man bei so einer Definition von Gefahrenstellen jedenfalls nie erreichen!

 

Über Norbert Rath

Das Fahrrad ist meine Leidenschaft! Egal ob im Alltag oder in der Freizeit mit dem Rennrad, Mountainbike und Reiserad - auf zwei Rädern macht es einfach mehr Spaß sich zu bewegen. Seit mehreren Jahren engagiere ich mich im ADFC Aachen um die Bedingungen für den Radverkehr in der Region zu verbessern.
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5 Antworten zu Was ist eine Unfallschwerpunkt im Land NRW?

  1. Peter sagt:

    Danke, sehr interessant.
    Zur Tabelle: Die Zahlen zu den Toten und Verletzten beziehen sich auf alle Orte, die zu den Radfahrenden nur auf innerorts. Sollte man anmerken, ändert aber nichts an der Aussage.

  2. Danke für diesen Artikel! Unsere Mitarbeit in der Unfallkommission war bislang nur einmal gefragt. Bei einem Ortstermin zu einem tödlichen Rad-Bahn-Unfall konnten wir aufzeigen, dass der Radfahrer die Ampel nicht sehen konnte, weil diese von Schildern verdeckt war. Es wurden einige Umbauarbeiten angeordnet und umgesetzt. Aber wir wurden – mutmaßlich aufgrund des entstandenen Arbeitsaufwands – nie wieder zur Unfallkommission eingeladen. In Köln gilt nach wie vor Vision Zero Rückstau statt Vision Zero.

  3. Norbert Paul sagt:

    Ich vermisse bei der Definition ein Bezug zum Verkehrsaufkommen, da ein Unfallschwerpunkt doch wohl eine Stelle mit erhöhtem Risiko sein sollte.

    • Norbert Rath sagt:

      In der Anlage 3 werden auf der Seite 2 und 3 “Verfahren zur Berücksichtigung der Verkehrsbelastung an plangleichen Knotenpunkten” aufgeführt. In der Tabelle 2 sind Knotenpunktbelastung DTVK in Kfz/24h aufgeführt. Bei Verkehrsmengen von > 75.000 Kfz/24h dürfen demnach bis zu 8 Unfälle gleichen Grundtyps der Kategorien 1 bis 4 pro Jahr auftreten, bevor es ein Unfallschwerpunkt wird. Bei weniger als 15.000 Kfz/24h sind es die oben genannten bis zu 3 Unfälle pro Jahr.

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